Die kleine Hexe, der Räuber Hotzenplotz, das kleine Gespenst, Schneewittchen, Kalle Wirsch und Aladdin hängen hier neben Doktor Faust und Till Eulenspiegel im Puppenmagazin. Sie entführen die kleinen und großen Zuschauerinnen und Zuschauer in eine Märchen- und Fantasiewelt. Doch Gerhards Marionettentheater spielt nicht nur für Kinder, sondern inszeniert von Anfang an auch anspruchsvolles Theater für Erwachsene. Gründer Fritz Gerhards legte von der ersten Stunde an großen Wert auf das Zusammenspiel aller Teile zu einer ganzheitlichen Einheit. Dazu gehören neben den ausdrucksstarken Puppen die Gestaltung und Farbgebung des Bühnenbildes, Sprache und Musik sowie Text und Bewegung der Figuren. Auch heute noch sind die Inszenierungen bis ins kleinste Detail aufeinander abgestimmt. So werden im Haller Schafstall, dem Sitz der Bühne, Erwachsene verzaubert und Kinder an die vielfältige Welt des Theaters herangeführt.
Um diesem Anspruch gerecht zu werden, behalten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Gerhards Marionettentheater alle Gestaltungsschritte selbst in der Hand: Die Marionetten werden in den eigenen Ateliers über dem Theater entworfen und gebaut. „Die Gestik, der Laufstil und die Gestaltung geben der Figur den richtigen Charakter, das Spiel wird dadurch ausdrucksstärker“, erklärt Karin Birkhold-Gerhards. Parallel dazu entstehen die Requisiten und das Bühnenbild. Der Hintergrund wird auf eine Stoffbahn gemalt. So können später auf der Bühne schnelle Szenenwechsel stattfinden und Bewegungen simuliert werden. Verschiedene Lichtstimmungen werden von Anfang an berücksichtigt, denn die Figuren sollen nicht bei Tageslicht wirken, sondern später auf der Bühne.
Die sechs hauptberuflichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter kommen aus ganz unterschiedlichen Berufen. „Wir bilden unsere Kolleginnen und Kollegen selbst aus“, erzählt die Theaterleiterin. Schließlich bauen sie nicht nur die Puppen und das Bühnenbild, sondern sind später auch als Spielerinnen und Spieler bei den Aufführungen aktiv. Die stimmungsvolle Musik wird eigens für das Stück komponiert und der Text eingesprochen. Jede der bis zu
30 Figuren eines Stückes erhält eine eigene Stimme, die den Charakter der Rolle widerspiegelt. Je nach Inszenierung kommt ein Erzähler hinzu, der Teile der Geschichte zusammenfasst. „Wir setzen professionelle Sprachgestalterinnen und Sprachgestalter sowie Schauspielerinnen und Schauspieler ein“, betont Karin Birkhold-Gerhards.
Von der ersten Idee bis zur Premiere vergehen eineinhalb bis zwei Jahre. Ganz am Ende wird die neue Inszenierung auf der fünf Meter breiten und 1,50 Meter hohen Bühne eingerichtet. Nico Gerhards ist für die Technik zuständig, setzt das Licht und steuert den Ablauf des Stücks mit wechselnden Lichtstimmungen und der Musik. Die Spielerinnen und Spieler stehen oberhalb der Bühne und führen die Marionetten – sie sind für das Publikum nicht sichtbar. Mit welcher Technik die Stücke inszeniert werden, hängt vom Inhalt ab. „Wir können auf inzwischen 100 Jahre Erfahrungen zurückgreifen“, sagt Nico Gerhards, der Enkel des Gründers.
Gerhards Marionettentheater wurde 1925 von Fritz Gerhards in Wuppertal gegründet. Der klassisch ausgebildete Mime übertrug die Ideen der Schauspielschule auf sein Marionettentheater und schuf damit eine neue Dimension des Puppenspiels in Deutschland. Seine Bühne wurde zum Inbegriff des anspruchsvollen Figurentheaters und zum Vorbild für viele andere Häuser. Während des Krieges zog Fritz Gerhards mit Familie, Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, dem Fundus und der Bühne selbst, nach Schwäbisch Hall. In der Nachkriegszeit fanden neben den Aufführungen im Haller Neubausaal auch Gastspiele in ganz Deutschland statt. Als Fritz Gerhards 1955 starb, übernahm der Figurengestalter Fritz Herbert Bross die künstlerische Leitung und prägte mit seinem reduzierten Stil die Figurengestaltung. Wolfgang Gerhards, der Sohn des Theatergründers, übernahm nach dessen Tod die Leitung des Theaters. Seit 1982 – nach 34 Jahren Tourneebetrieb – hat das Marionettentheater im Schafstall eine feste Spielstätte gefunden, die es sich mit dem Programmkino „Kino im Schafstall“ teilt.
Bis heute werden Stücke gespielt, deren Inszenierungen aus der Zeit von Fritz Gerhards, Fritz Herbert Bross und dem 2020 verstorbenen Sohn Wolfgang Gerhards stammen. „Die Stile der unterschiedlichen Figuren sind für uns gleichwertig“, unterstreicht seine Frau Karin Birkhold-Gerhards den Anspruch. „Sie müssen zum Stück passen.“ Die Auswahl der Texte erfolgt nach traditionellen Gesichtspunkten. „Wir wollen kein Menschentheater mit Marionetten spielen“. Wo fantastische Welten eine Rolle spielen, hat das Figurentheater seine Stärken. Die Figuren auf der Bühne können sich viel freier bewegen und sogar fliegen. In der diesjährigen Jubiläumssaison werden neben außergewöhnlichen Aktionen und Ausstellungen sechs verschiedene Inszenierungen im Schafstall gezeigt.
Karin Birkhold-Gerhards und Nico Gerhards, Vorstand des gemeinnützigen Vereins Gerhards Marionettentheater e.V..
Die 100-jährige Tradition ist für Karin Birkhold-Gerhards und ihren Sohn Nico Gerhards Ansporn: „Wir sind stolz auf das, was in dieser Zeit geschaffen wurde“, beschreibt er die Situation. „Diese Theaterform muss trotz aller modernen, multimedialen Einflüsse erhalten bleiben.“ Der hohe Qualitätsstandard, den Fritz Gerhards begründet hat, soll bewahrt werden. „Die Originaltexte, die wir inszenieren wollen, werden für das Figurentheater nahe am Original bleibend umgeschrieben, sie sollen die Fantasie anregen und das Publikum dort abholen, wo es steht“, beschreibt Karin Birkhold-Gerhards die Voraussetzungen. „Wir haben 100 Jahre Vorwissen, auf dem wir aufbauen und dessen Ideen wir nutzen können.“ Zusammen mit dem eigenen hohen technischen Standard und dem künstlerischen Anspruch geht das Konzept auf: Die Stücke werden über viele Jahre abwechselnd zu verschiedenen Jahreszeiten gespielt, um die unterschiedlichen Zielgruppen zu erreichen. Mittlerweile hat das Theater mehrere Generationen begleitet: Großeltern, Eltern und Kinder genießen die Stücke. „Und von den Zuschauerinnen und Zuschauern bekommen wir viel Lob.“
Finanziell unterstützt wird das Marionettentheater vom Land Baden-Württemberg, der Stadt Schwäbisch Hall und seinem Freundeskreis. Die VR Bank verschenkt in der Weltsparwoche Erlebnistickets als Gutscheine für Eintrittskarten und steigert damit den Bekanntheitsgrad der Bühne in der Region. „So finden Neueinsteiger zu uns und Altbekannte können ihre Lieblingsstücke noch einmal sehen“, freut sich Nico Gerhards.